Borussia feiert 120. Geburtstag Vor zehn Jahren mussten sie für Liverpool noch bezahlen
Mönchengladbach - Max Eberl (46) muss herzhaft lachen, als er das Zwischenergebnis hört. Borussia sucht anlässlich ihres Geburtstages die beste Elf eines jeden Jahrzehnts der Vereinsgeschichte. Von den 70ern bis in die Gegenwart haben die Fans das Sagen, und sie haben den heutigen Manager bei den Abwehrspielern der 00er Jahre auf Platz zwei hinter Filip Daems (41) gehievt.
Das Votum hat zwei naheliegende Gründe: Zum einen war die Zeit nach der Jahrtausendwende die tristeste überhaupt bei Borussia. Da kann es ein technisch limitierter Rechtsverteidiger mit Kämpferherz schon mal weit nach vorne schaffen. Oder aber die Fohlen-Fans haben angesichts der Eberl’schen Erfolge als Sportdirektor schlichtweg vergessen, dass er aus seinen Defiziten auf dem Rasen selbst keinen Hehl macht.
Gladbach zum sechsten Mal in neun Jahren international
Der Borussia VfL 1900 e.V. Mönchengladbach wird an diesem Samstag 120 Jahre alt. Hinter ihm liegt eines der besten und aufregendsten Jahrzehnte der Historie. 2010, zum letzten runden Geburtstag, kam der FC Liverpool für ein Freundschaftsspiel vorbei, gegen eine Gage. 2020 könnte der englische Meister von der UEFA nach Gladbach geschickt werden – als Gegner in der Champions League.
Kommen sehen hat das niemand, schließlich drohte Borussia zwischenzeitlich ein Dasein als Fahrstuhlverein. „Heute dürfen wir über sechsmal Europapokal reden. Damals hat mich umgetrieben, einen Klub zu stabilisieren, der sich in den Jahren davor – schon zu meiner Zeit als Spieler – immer im Abstiegskampf befunden hat“, erinnert sich Eberl. „Ich wollte mal eine langweilige Saison spielen und ohne Sorgen auf Platz zehn einlaufen.“
Borussia Mönchengladbach: Nur in den 70ern mehr Punkte
Nun, seitdem hat es weder eine langweilige Saison gegeben noch sind die Fohlen mal auf Platz zehn eingelaufen. Neunmal einstellig in Folge, nur der FC Bayern und Borussia Dortmund haben das im gleichen Zeitraum geschafft, so viel ist mittlerweile bekannt. Doch im Schnitt hat sich Gladbach sogar zu einem Anwärter auf die Königsklasse entwickelt: 1,56 Punkte pro Spiel in den 10er Jahren, Platz vier hinter Bayern, Dortmund, Leipzig (erst seit 2016 erstklassig) und Leverkusen. Nur die 70er waren im Schnitt noch besser, als Gladbach lediglich von den Bayern um zehn Punkte übertroffen wurde.
„Wir haben eben eine so rasante Entwicklung genommen“, sagt Eberl. „Das Entspannte ist weg, weil wir nicht über die Frage Neunter, Zehnter oder Elfter, sondern über Vierter oder Fünfter reden. Es ist nicht mehr existenziell, sondern sportlich spannend und interessant.“ Als die „Geburtsstunde dieser Dekade“ bezeichnet der Manager die Relegation gegen den VfL Bochum. In den 00ern hatte der Ruhrpott-Klub noch mehr Punkte geholt als Gladbach, in den 10ern war Bochum nicht einmal mehr erstklassig – und nie wieder so nah dran wie 2011 in der Relegation.
Igor de Camargo: Sein Tor schrieb Geschichte
Im Hinspiel tat sich Borussia zu Hause lange schwer gegen den Zweitligisten. Es muss in der 56., 57. Minute gewesen sein, Eberl hat diesen „außergewöhnlichen Moment“ immer noch parat: Anstatt unruhig zu werden, stemmte sich das Publikum vehement gegen die Existenzangst, schrie die Mannschaft nach vorne.
Borussias Jahrzehnte in der Bundesliga
- 60er Jahre: 170 Spiele, 265 Punkte, 1,56 im Schnitt
- 70er Jahre: 340 Spiele, 609 Punkte, 1,79 im Schnitt
- 80er Jahre: 340 Spiele, 526 Punkte, 1,54 im Schnitt
- 90er Jahre: 310 Spiele, 400 Punkte, 1,29 im Schnitt
- 00er Jahre: 272 Spiele, 294 Punkte, 1,08 im Schnitt
- 10er Jahre: 340 Spiele, 531 Punkte, 1,56 im Schnitt
Die hätte sich in der Nachspielzeit beinahe mit dem 0:0 zufrieden gegeben, wenn der Borussia-Park sie nicht noch einmal zu einem langen Ball angepeitscht hätte. Es folgte ein Einwurf von Havard Nordtveit (30) und dann, wiedergegeben im Original-Kommentar der ARD: „Dabrowski! Und da ist de Camargo! Und da ist schon wieder Luthe! Und da ist Hanke! De Camargo – Tooor!“ Eberl sagt: „Wenn ich daran zurückdenke, kommen extreme Emotionen hoch.“
Dass das 1:1 im Rückspiel auch ohne das späte 1:0 von Igor de Camargo (37) gereicht hätte, ist ein Treppenwitz dieser Wiederauferstehungs-Geschichte von Borussia Mönchengladbach. Doch ohne dieses Tor lassen sich die Jahre danach weder erzählen noch erklären.
Borussia Mönchengladbach will erst den 125. wieder groß feiern
Den 120. Geburtstag kann Gladbach trotz der Ungewissheit, die die Corona-Krise verursacht, voller Zuversicht begehen. Gegen das große Tamtam habe man sich schon vor vielen Monaten entschieden, heißt es, als die Pandemie noch nicht in Sicht war. Auf den Trikots der kommenden Saison steht unter der Raute zwar die 120, doch groß gefeiert werden soll erst wieder der 125. Geburtstag.
Die Ultras von „Sottocultura“ haben Fans aufgefordert, die Stadt zu schmücken. Die größte Aktion des Vereins ist die umfangreiche Abstimmung über die besten Teams der Vereinsgeschichte. Als Borussia 100 wurde im Jahr 2000, da schien die Jahrhundertelf in Stein gemeißelt als beste Elf aller Zeiten. Man musste kein großer Pessimist sein, um daran zu zweifeln, dass jemals wieder Spieler für den Klub spielen sollten, die an der Elf rütteln können.
Corona-Krise sorgt für Ungewissheit
Es ist ein verstecktes Eigenlob, wenn sich Manager Eberl nicht in der Lage sieht, seine persönliche Top-Elf der 10er Jahre zu küren. Aber er hat sie nun einmal alle geholt mit seinem Team: Marco Reus, Martin Stranzl, Yann Sommer, Juan Arango, Dante, Raffael, Granit Xhaka, Denis Zakaria, Matthias Ginter, Marcus Thuram. „Es ist so kompliziert, zum Glück muss ich nicht abstimmen. Aber ich habe ja jedes Jahr schon abgestimmt, welchen Spieler ich verpflichte, verkaufe, behalte, verlängere oder nicht verlängere“, sagt Eberl und lacht.
2010 folgte auf den runden Geburtstag „eines der kompliziertesten Jahre der Vereinsgeschichte“, wie er sagt. Angesichts der Herausforderungen durch die Corona-Krise hat sich Borussia die vielen Fragezeichen, wie es nach dem 120. weitergeht, diesmal nicht selbst zuzuschreiben. Aber eine „langweilige Saison“? Die ist immer noch nicht in Sicht.