Gladbachs Weltmeister Kramer im Exklusiv-Interview „Roses Art ist herausragend“
Jerez de la Frontera - Der Bundesliga-Rückrundenauftakt naht. Gladbach eröffnet am Freitag mit dem Duell auf Schalke die heiße Phase im Kampf um die Meisterschale. Als Tabellenzweiter hat sich die Borussia vom Niederrhein in den Kreis der Titelkandidaten gebracht.
GladbachLIVE hat mit Weltmeister Christoph Kramer über die neue Fohlen-Elf gesprochen. Im exklusiven Interview erklärt der 28-Jährige , was Trainer Marco Rose (43) auszeichnet, gewährt tiefe Einblicke in die Blase Bundesliga und verrät, ob die deutschen Fans sich im Sommer während der Euro 2020 auf ihn als TV-Experten im ZDF freuen kann.
Sie zählten 2014 zu den Spielern, die den WM-Rausch der DFB-Elf in Brasilien miterleben durften. Nun sind Sie als Kandidat für das olympische Fußballturnier 2020 in Tokio im Gespräch.
Das würde ich sehr gerne machen, das reizt mich ungemein. Ich weiß allerdings nicht, wie realistisch dies ist. Bislang hat noch niemand mit mir darüber gesprochen. Ich hatte auch noch keinen Kontakt zu Stefan Kuntz. Ich kann also nicht einschätzen, wie da meine Chancen stehen.
Was würde Ihnen Olympia bedeuten?
Wenn der Fußball mir auch noch zu einer Olympia-Teilnahme verhelfen würde, dann wäre das sicherlich ein weiteres Highlight in meiner Karriere. Das wäre einfach nur geil. Es zählt jedoch nicht, ob ich das gerne machen würde, sondern es zählt, was der Trainer möchte.
Im Sommer steht auch die EM auf dem Programm. Dass Bundestrainer Jogi Löw Sie nominiert, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Wird man Sie daher, wie schon bei der WM 2018, als TV-Experte im ZDF sehen?
Ja, das ist durchaus möglich. Wir sind in Gesprächen. Vielleicht wird da schon was Ende Januar verkündet.
Wenn Sie kein Fußballprofi geworden wären – wäre ein Medienberuf für Sie interessant gewesen?
Ja. Wobei ich mir damals keine großen Gedanken darüber gemacht habe, weil relativ schnell klar war, dass es in die Richtung Fußball gehen wird. Ich hatte nach dem Abitur Zivildienst gemacht und bei den Amateuren von Bayer Leverkusen gespielt, als die Entscheidung fiel, sich mal ein Jahr nur auf den Fußball zu konzentrieren. Und dann ging es bei mir auch relativ schnell nach oben, so dass ich mich nicht groß mit dem Thema Berufswahl auseinandersetzen musste. Fakt ist, dass ich wirklich sehr gerne schreibe. Ich weiß aber auch, dass es gar nicht so einfach ist, sich im Journalismus durchzusetzen. Und genau, wie zum Weg Fußballprofi Glück gehört, spielt der Faktor Glück auch eine Rolle, um seinen Weg in der Medienwelt zu machen, da sehr viele Menschen von diesem Beruf träumen und den machen wollen.
Sie haben eine eigene Kolumne im Magazin „11 Freunde“. Sind Sie wirklich der Autor oder haben Sie einen Ghostwriter?
Nein. Ich lege großen Wert darauf, dass das meine Handschrift ist, ich verfasse das. Jede einzelne Kolumne ist komplett aus meiner Feder. Ich schreibe das selber und schicke den Text dann per Mail an die Redaktion. Das Schreiben liegt mir. Ich schreibe meiner ganzen Familie zu bestimmten Anlässen wie beispielsweise Weihnachten auch gerne sehr lange Briefe.
Tatsächlich?
Ja. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das geschriebene Wort die Menschen auch heutzutage noch sehr glücklich stimmen kann. Es geht meiner Familie und mir richtig gut – und da freut man sich über das geschriebene Wort mehr als beispielsweise über ein neues Hemd aus der Kollektion eines namhaften Designers. Ich finde das wichtig, Briefe oder eine Karte zu bestimmten Anlässen an meine Familie oder Freunde zu schreiben.
Wie oft können Sie im Alltag als Fußballprofi eigentlich Ihre Eltern noch sehen?
Zwei bis drei Mal die Woche. Meine Eltern wohnen in Solingen-Ohligs – ich in Düsseldorf. Die Autofahrt zu ihnen dauert rund 15 Minuten. Früher habe ich immer vor der Haustüre Fußball gespielt. Ich sehe meine alten Freunde regelmäßig. Von daher ist das wunderbar. Ich bin ein Kind des Westens und will auch immer hier in der Region bleiben. Ich habe hier einen Lebensstandard, den ich nirgendwo sonst hätte. Das ist mir sehr wichtig.
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Vielleicht ist das auch eine mögliche Erklärung, warum Ihre jüngste Vertragsverlängerung in Gladbach bis 2023 von so manchen Beobachtern als selbstverständlich wahrgenommen worden ist?
Also von mir nicht. Das ist nicht selbstverständlich, dass ich noch mal so lange bei Borussia bleiben darf. Das muss ich klar sagen. Natürlich muss sich ein Spieler für den Verein entscheiden. Aber der Verein muss das umgekehrt genauso tun. Das ist dann ja auch eine Wertschätzung von beiden Seiten.
Mussten Sie denn länger überlegen? Sie hätten sicherlich auch noch einmal eine finanziell lukrative Herausforderung bei einem anderen Verein finden können.
Nein. Ich habe ja in der Vergangenheit immer wieder einige Dinge im Zusammenhang mit Borussia betont. Ich bin da kein Fähnchen im Winde. Ich überlege mir meine Aussagen sehr gut – darum stehe ich auch dahinter. Mir geht es finanziell sehr gut. Alles andere als Borussia wäre nur dem Geld hinterherjagen gewesen. Geld ist sehr wichtig. Für jeden einzelnen, für mich auch, ich eifere auch in einem gewissen Maße dem Geld hinterher. Aber irgendwann muss man auch wissen: Wenn das jetzt nicht reicht, was ich bislang verdient habe, dann reichen 40 Millionen in China oder 180 Millionen Lottogewinn auch nicht, weil es dann nie genug ist.
Nach unseren Informationen hätten Sie auch einen ablösefreien Abgang in Gladbach anpeilen und so richtig Handgeld kassieren können?
Ich will es mal so ausdrücken: Diesen krassen Schnapper noch mal zu machen hat in meinen Gedanken keine Rolle gespielt. Ich fühle mich bei Borussia einfach mega-wohl und bin dem Verein für meine Karriere sehr dankbar. Man darf ja auch nicht vergessen, wie alles angefangen hat, als der Verein mich aus der zweiten Liga zu sich geholt hat. Gemeinsam haben wir dann richtig was aus meiner Karriere herausgeholt. Ich probiere, das auch zurückzuzahlen und freue mich, dass ich die Chance habe, noch lange hierzubleiben.
Sind Sie inzwischen Borusse durch und durch, tragen Sie die Raute in der Brust?
Klar, auf jeden Fall. Ich habe mich bei allen Vereinen wohlgefühlt. Leverkusen ist wichtig für mich gewesen, ich habe da in der Jugend gespielt und durfte dort Profi sein. Das ist für mich sehr cool gewesen, weil ich als Kind immer davon geträumt habe, mal in der BayArena im Leverkusen-Trikot aufzulaufen. Dann Bochum, wo ich wirklich eine Riesen-Zeit hatte. Aber Gladbach ist natürlich die Station, die mich am meisten geprägt hat. Hier bin ich gereift und erwachsen geworden, der Verein hat mir menschlich und sportlich sehr viel gegeben. Ich will es nicht zu dramatisch ausdrücken, aber hier bin ich Weltmeister geworden und habe fast alle meine Bundesligaspiele gemacht. Ich habe hier Champions- und Europa-League gespielt – das ist der Verein, der mir im Erwachsenenfußball am nächsten liegt. Ich kann mir vorstellen, immer bei Borussia zu bleiben.
Dass Sie als Weltmeister in den vergangenen Monaten nicht mehr jedes Spiel in der Startelf gestanden haben – ist das eher ein Indiz dafür, dass Sie eine Formdelle hatten, oder wie sehr sich Borussia inzwischen weiterentwickelt hat?
Eine Formdelle würde ich nicht sagen. Aus meiner Sicht haben wir mittlerweile einen unglaublich breiten und ausgeglichenen Kader. Wir haben nicht die Spitze wie Bayern, Dortmund oder Leipzig, aber wir haben sicherlich die Breite wie diese Mannschaften. Dass man dann im zentralen Mittelfeld, wo wir wirklich gut aufgestellt sind, auch mal auf der Bank sitzt, das ist klar. Dieses ganz klassische Stammspieler-Modell gibt es ja bei uns nicht mehr so. Um die Frage abschließend beantworten: Ich würde sagen, dass es eher ein Lob für den Verein als ein Zweifel an mir ist.
Sind Sie ein Stinkstiefel, wenn Sie nicht spielen?
Nein. Aber klar ist auch, dass ich immer spielen möchte. Das ist nicht cool, draußen zu sitzen. Aber hier sind halt auch andere richtig gute Spieler. Und es ist eine Art des Respekts, wenn man nicht spielt, dass man dann keine üble Flappe zieht. Das gibt dem anderen auf dem Platz ein schlechtes Gefühl. Ich mag an unserer Mannschaft, dass wir uns gegenseitig auch gönnen können. Das habe ich auch schon anders erlebt.
Stimmt es, dass Sie auch ein Tennis-Talent gewesen sind und man Ihnen eine große Karriere zugetraut hatte?
Ja, mit neun Jahren musste ich eine Entscheidung treffen. Tennis oder Fußball. Ich habe mich dann für die Mannschaftssportart Fußball entschieden. Und dann kann es in der Karriere auch mal Phasen geben, in denen man nicht immer spielt.
Würden Sie sagen, dass Borussia mittlerweile zu den Top-Fünf-Vereinen in Deutschland zählt?
Ja - und das ist eine unfassbare Leistung des gesamten Vereines, dass man jetzt wirklich nicht mehr der Verein ist, wo die Spieler nur noch ein, zwei Jahre bleiben. Mittlerweile ist es ja so, dass eine Verlängerung von Spielern wie Matthias Ginter möglich zu sein scheint, zumindest was ich so lese. Das sagt ja einiges über den Verein aus. Bayern, Dortmund und Leipzig stehen über uns, aber wer von Schalke, Leverkusen, Gladbach oder Wolfsburg jetzt den besseren Kader hat und Vierter, Fünfter, Sechster oder Siebter wird, das ist auch von der Saisonform und dem Spielglück abhängig. Wir haben uns unter den Top-Sieben etabliert und sind da so schnell auch nicht mehr wegzudenken. Das wäre vor zehn Jahren, allein aus wirtschaftlichen Gründen, gar nicht möglich gewesen. So, wie es jetzt ist, das ist eine herausragende Leistung.
Motiviert Sie das, dass Sie wegen der starken Hinserie wiederholt mit Fragen zur Meisterschaft konfrontiert werden – oder spüren Sie dadurch vielmehr noch größeren Druck?
Ganz klar: Positives motiviert. Das ist doch logisch, dass dir alles, vom Training bis zum Spiel, viel leichter fällt, wenn du auf die Tabelle schaust und Erster bist. Das ist was ganz anderes, als wenn du Vorletzter bist.
Ist es legitim in Gladbach von der Meisterschaft zu reden?
Das finde ich ein wenig hochgegriffen. Aber ich bin gerne Tabellenerster oder -zweiter. Da gucke ich mir die Tabelle besonders gerne an. Wenn mir einer sagt, dass wir Meister werden, dann finde ich das auch gut, Euphorie ist super. Aber es macht keinen Sinn, darüber jetzt zu reden. Das Gleiche gilt für das Thema Zielsetzung. Es macht einfach keinen Sinn, darüber zu sprechen, weil du soweit im Fußball nicht nach vorne blicken kannst. Es kann sich so schnell wieder alles ändern. Sogar innerhalb von einer Woche. Das Ziel muss sein, jeden Tag das Beste zu geben.
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In der vergangenen Saison hatten die Gegner Borussia in der Rückrunde immer wieder ausgeguckt und sich auf die Spielweise eingestellt. Ist diese Gefahr nun erneut gegeben?
Ich glaube, dass wir ein Spielsystem haben, das man nicht so richtig packen kann. Wir haben in diesem Jahr schon in vier verschiedenen Grundordnungen gespielt, wiederholt das Personal gewechselt, das jeweils immer andere Stärken miteinbringt. Von daher würde ich nicht sagen, dass wir ausrechenbar sind. Wir haben sehr viele Facetten in unserem Spiel. Wir sind in den vergangenen Jahren deutlich ausrechenbarer gewesen als jetzt. Wir haben das neue System voll angenommen – und in der Hinrunde gesehen, dass es erfolgreich ist. Und das ist in einer Mannschaft immer ganz wichtig, dass du siehst, das gibt dir Erfolg, Punkte und Prämien, das gibt dir ein gutes Gefühl, einfach alles.
Marco Rose ist nun über ein halbes Jahr Trainer bei Borussia. Er scheint bei Ihnen und Ihren Kollegen die richtige Ansprache zu finden.
Entweder du hast das, oder du hast das nicht. Du kannst das nicht lernen, Energie und Feuer in einer Mannschaft zu erzeugen.
Was zeichnet Rose in diesem Zusammenhang konkret aus?
Er ist korrekt zu uns Spielern. Das ist das, was zählt. Man spürt, dass er ehrlich ist. Das ist für mich ganz wichtig. Er sagt, was Sache ist, ist aber ganz normal im Kopf. Das ist ein herausragendes Merkmal, weil das in der heutigen Zeit so wenige sind. Wenn du ihn so erlebst, dann denkst du ,ach, krass!‘, aber er macht jetzt kein Hexenwerk, er ist einfach ein korrekter Typ. Gemessen an dem, was wir sonst in unserer Blase Fußball erleben, ist das herausragend.
Dinge wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit – das sind doch eigentlich die Basics für einen vernünftigen Umgang miteinander.
Ja, genau. Aber weil diese Eigenschaften heutzutage in diesem Geschäft so selten sind, ist das schon wieder eine herausragende Leistung. Vom Typ her ist Marco Rose neben Peter Neururer der coolste, den ich bis jetzt als Trainer hatte (lacht). Ich würde mich freuen, wenn diese Art und dieser Charakter irgendwann im Fußball als normal gelten.
Dass die Blase Bundesliga sich so darstellt, wie Sie es schildern – tragen die Medien aus Ihrer Sicht einen Teil dazu bei?
Ja. Weil in dieser Blase die Medien den gleichen Druck wie alle anderen haben. Es müssen jeden Tag Zeilen und Schlagzeilen geliefert werden, obwohl man aus dem, was oft gesagt wird, nichts machen kann, weil die Sätze ohne Inhalt sind. Also werden Dinge überdramatisiert, krasse Überschriften gefunden, die dann alle anklicken. Aber die Schuld liegt im Prinzip bei uns allen, weil wir immer nur das lesen und anklicken wollen, was ein gewisses Geschmäckle hat. Und diese Geschichten mit Geschmäckle verkaufen sich besser als die ohne. Und die Medien müssen Geld verdienen, also werden die Geschmäckle-Geschichten immer häufiger produziert. Man kann da keinem einen Vorwurf machen. Aber es ist doch klar, dass sich im Umkehrschluss die Spieler, Trainer und Verantwortlichen immer mehr zurückziehen und möglichst nur noch Nullachtfünfzehn-Sätze sagen, die bloß kein Geschmäckle haben. Man kann den Zug nicht mehr aufhalten, weil wir nicht das Positive lesen wollen, sondern Geschmäckle und Negatives. Darum ist der Druck auch so, wie er ist, das wird sich auch nicht mehr ändern. Alle fordern Typen – wenn dann mal einer was sagt, wird sich gleich draufgestürzt und alles zerrissen.
Dann verraten Sie uns doch abschließend, welche Schlagzeile Sie sich am Saisonende für Borussia und sich wünschen?
Am liebsten würde ich lesen, dass wir deutscher Meister sind und Christoph Kramer Torschützenkönig geworden ist.
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Und dann zu Olympia fährt und Deutschland im Finale zur Goldmedaille schießt?
Das wäre cool. Das würde ich so alles unterschreiben.